„Skandal“: So verspottet die Politik Impfgeschädigte und Long-Covid-Erkrankte

Es gibt verschiedenste Gründe, warum die Politikverdrossenheit in Deutschland immer stärker zunimmt. Auch ich fasse mir bei so mancher Entscheidung, die in Berlin getroffen wird, an den Kopf. Trotzdem versuche ich eigentlich immer, mir vor Augen zu führen, dass es sicherlich angenehmere Tätigkeiten im Leben gibt, als in der heutigen Zeit Politiker zu sein. An einem Punkt endet mein Verständnis jetzt allerdings endgültig.
Die Bundesregierung hat die Corona-Pandemie zwar längst für beendet erklärt – doch zahlreiche Menschen leiden nach wie vor unter den Folgen. Eine große Gruppe davon sind Menschen, die mit Long Covid oder mit Schäden durch die Covid-Impfung, dem sogenannten Post-Vac-Syndrom, zu kämpfen haben. Im schlimmsten Fall entwickeln Betroffene ME/CFS – eine schwere chronische Erkrankung, die durch extreme Erschöpfung, Belastungsunverträglichkeit und zahlreiche körperliche Symptome gekennzeichnet ist.
Allein in Deutschland sind Schätzungen zufolge rund 600.000 Menschen an ME/CFS erkrankt, seit der Corona- Pandemie hat sich die Zahl der Erkrankten verdoppelt. Jetzt lässt die Politik Betroffene schon wieder im Stich – und die Begründung macht mich fassungslos.
Bundesregierung will Medikamenten-Studie nicht fördern – gehts noch?Eine Heilung für ME/CFS ist bislang ebenso wenig in Sichtweite wie zumindest eine ausreichende medizinische Versorgung, ausreichend verfügbare und wirksame Medikamente oder gesichert hilfreiche Therapien. Laut Experten wie der Charité-Professorin Carmen Scheibenbogen könnte ein neues Medikament namens Inebilizumab ein Hoffnungsschimmer sein. Forscher wollten nun in einer klinischen Studie herausfinden, ob die Erwartungen berechtigt sind. Doch das Bundesforschungsministerium, seinerzeit noch unter Leitung der FDP-Politikerin Bettina Stark-Watzinger, hat eine finanzielle Förderung der Studie abgelehnt.
Ein Gutachten, das der Berliner Zeitung exklusiv vorliegt, führt einige Argumente gegen die Finanzierung der Studie ins Feld. Im Englisch abgefassten Fazit kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Zahl der neuen Covid-Fälle, die zu ME/CFS führen, „dramatisch abnimmt“. Das Forschungsministerium erklärte anschließend dem Projektträger, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, dass die Studie eine „niedrige Priorität“ erhalten habe.

Zentrale Kriterien für eine Förderung seien die „Relevanz der Fragestellung für Patientinnen und Patienten, zum Beispiel patientenseitiger Nutzen oder Lebensqualität“, so das Ministerium. Zudem sei die „Relevanz der Fragestellung für das Gesundheitswesen in Deutschland, beispielsweise hinsichtlich der Krankheitslast und der Häufigkeit/Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung als Todesursache“ ausschlaggebend. Und schließlich spiele die Anzahl der Betroffenen eine Rolle. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten.
ME/CFS: Zahl der Betroffenen hat sich seit Corona verdoppeltSeit knapp anderthalb Jahren sehe ich nun zu, wie meine Freundin gegen ihre Long-Covid-Erkrankung kämpft. Ich und ihre Familie versuchen so gut wie möglich, sie bei ihrem Marathon gegen alle Widrigkeiten des völlig überforderten Gesundheitssystems zu unterstützen. Doch ihr Umfeld kann nicht alles auffangen, was Politik und Medizin in Deutschland in besorgniserregender Regelmäßigkeit versäumen. Es ist mittlerweile blanker Hohn, wie die Langzeit-Erkrankten in Deutschland seit der Corona-Pandemie im Stich gelassen werden.
Meine Freundin ist sehr eng mit anderen Betroffenen von Long Covid und ME/CFS vernetzt, sie erfährt immer wieder von neuen Fällen. Einer Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat sich die Zahl der Patienten vom Beginn der Pandemie an bis 2023 auf etwa 620.000 verdoppelt. Auch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS sieht durch die Datenlage die Behauptung widerlegt, dass es eine seltene Krankheit ist. Gemäß EU-Definition müssten dazu weniger als fünf Patienten auf 100.000 Personen kommen – das ist aber nicht der Fall.
Die Nicht-Finanzierung einer vielversprechenden Medikamenten-Studie ist das nächste Kapitel in einer nicht enden wollenden Geschichte der gesundheitspolitischen Ignoranz. Bereits im vergangenen Jahr hat der Berliner Senat sein Versprechen gebrochen, mit Long-Covid-Ambulanzen mehrere Anlaufstellen für Erkrankte in der Hauptstadt einzurichten. „Die Krankenbehandlung der betroffenen Personengruppe ist aus Sicht des Senats durch die Regelversorgungsstruktur gewährleistet“, war damals die völlig absurde Begründung. Diese Realitätsverweigerung zeigt einmal mehr, dass die Politik nicht bereit zu sein scheint, die Folgen der Pandemie vernünftig aufzuarbeiten.
Erkrankte wüten gegen Politik: „Uns fehlt die Kraft – euch fehlt der Wille“In den Betroffenen-Gruppen meiner Freundin tritt der Unmut über die fehlende Unterstützung von der Politik fast täglich zutage. Die Hausärzte sind in der Regel mit dem Krankheitsbild überfordert. Oft wird Betroffenen lediglich dazu geraten, einfach mehr Sport zu treiben und sich mehr zu bewegen – es sei ja alles nur psychisch bedingt. Eine Reha oder alternative Therapien wie das simulierte Höhentraining, die sogenannte Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Therapie (IHHT) führen nur bei manchen Erkrankten zum Erfolg. Bei anderen wiederum verschlechtert sich der Zustand dadurch sogar. Auch breit verfügbare Medikamente fehlen, Betroffene greifen daher – wenn überhaupt – zu Off-Label-Medikamenten, bei denen jedoch die offizielle Zulassung fehlt.
Bei der bundesweiten Liegenddemo vor wenigen Wochen, bei welcher tausende an ME/CFS Erkrankte für mehr Unterstützung demonstrierten, zeigte sich der Frust der Betroffenen auf bedrückende Art und Weise. „Uns fehlt die Kraft – euch fehlt der Wille“ stand auf einem der Demonstrationsschilder – „Wir liegen nicht herum, wir kämpfen im Liegen“ auf einem anderen. Eine Australierin erzählte unter Tränen, dass sie schon seit Jahren auf der Liegenddemo für mehr Anerkennung und Unterstützung kämpfe. Geändert habe sich in all der Zeit allerdings „nichts“.

Bereits im Mai 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation den internationalen Gesundheitsnotstand wegen der Corona-Pandemie aufgehoben. Trotzdem hat es die Bundesregierung erst zwei Jahre später geschafft, endlich eine Enquete-Kommission zu beschließen, die den Umgang mit der Pandemie in Deutschland aufarbeiten soll. Fraglich bleibt jedoch, ob diese den vielen Langzeit-Betroffenen von Corona wirklich helfen wird. Stattdessen muss in der Politik endlich die Gewissheit einkehren, dass sie nicht einfach Hunderttausende in Deutschland ignorieren kann.
Im Koalitionsvertrag verspricht die neue Bundesregierung mehr Forschung und eine bessere Versorgung für an ME/CFS, Long Covid und Post Vac erkrankte Menschen. Es bleibt nur zu hoffen, dass den Worten endlich auch Taten folgen.
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